
Zwei Wochen vorher hats mir den Boden unter den Füßen weggezogen und ich hab von heut auf morgen Heim und Heimat (mal wieder), meine Freunde (mal wieder), mein Umfeld (mal wieder), meine Pläne (mal wieder) verloren. Über ein Jahr zuvor hatten meine Angst- und Panikattacken angefangen, ich wußte nicht mal, was das war. Die vierzehn Tage waren die blanke Hölle. Ich hab kaum gegessen und geschlafen, nur noch geräumt, gepackt, weggeschmissen, organisiert, Abschiede genommen, mit den Kumpels nochmal saufen gegangen und was weiß ich, unterbrochen von Angst- und Panikanfällen, Streit usw usf. Wie ich die über zehn Stunden Reise geschafft hab, weiß ich bis heut nicht.
In Nürnberg umsteigen. Da gibts auf dem Bahnhof ewig lange Treppen vom ewig langen Tunnel zu den Gleisen hoch. Ich hatte auf dem Rücken den großen Rucksack, vorne nen kleinen, rechts den Trolley, links ne große Tasche, in die ich ganz zum Schluß noch meine Staffelei und Joey, meinen Teddy, dazugepackt hatte. Ich hab die Treppe raufgeguckt, zehn Minuten noch bis zum Zug, hab eine Stufe nach der anderen genommen, dann kam ein Absatz und es ging nix mehr. Ich konnte nicht mehr atmen, nicht mehr gehen, mir war alles wurscht. Aus. Ende. Vorbei.
Oben an der Treppe stand ein kleiner Junge, dunkelhäutig, schwarze Haare, sah mich an, kam zu mir runter, hat ohne was zu sagen meine Tasche und meinen Trolley genommen, ist damit langsam die Stufen rauf, hat sich ein paar Mal umgeguckt, ob ich komm, hat die Sachen oben abgestellt und auf mich gewartet. Als ich dann auch da war, hab ich mich mehr mit Gesten und Blicken statt Worten bedankt, ich hatte keine Luft mehr und er sah aus, als ob er die Gesten und Blicke besser versteht als die Worte. Er ging zu einem Pärchen mit zwei Kindern, die ein Stück weiter standen, alle dunkelhäutig, schwarze Haare, zwei große Koffer, ein Trolley, ein paar Taschen. Ich sah sie an und hab kapiert, daß wir was gemeinsam haben. Wir waren auf der Flucht, zwischen Weggehen und Ankommen, nach Abschieden, Angst, Niemandsland, Vakuum, im Sprung. Die Frau und der Junge lächelten mich an und ich wußte, daß sie das gleiche dachten. Ich hatte noch Zeit für eine Zigarette, bevor der Zug da war.
Nachts um 12 war ich dann hier am Bahnhof.
Die Jahre danach waren nicht viel besser, nur anders. Zwischen weggehen und ankommen, nach Abschieden, Angst, Niemandsland, Vakuum, im Sprung.
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Heut vor 17 Jahren bin ich aus Kassel abgereist. Nach Monaten Arbeit bis zum Anschlag, organisieren, räumen, packen, wegschmeissen, Abschiede nehmen, mit den Kumpels nochmal saufen gehen … war Heim und Heimat weg (mal wieder), Umfeld weg (mal wieder), aber viele Pläne (mal wieder), dann wieder viel Arbeit, ein Monat später wieder der Boden weg, Freunde weg, Pläne weg, Karriere weg – zwischen weggehen und ankommen, nach Abschieden, Angst, Niemandsland, Vakuum, im Sprung.
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Da bin ich heut noch, aber vielleicht komm ich ab&zu wieder ein bißchen bei mir an.